Monique Lhoir (Monika Pallasch) Autorin in Tespe-Bütlingen Romane, Geschichten... und noch mehr
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Föhr

 

Das Glück ist manchmal auch ein Augenblick der Stille.
Roland Leonhardt (*1921)

Auszeit

Jeder Mensch braucht mal eine Auszeit, besonders dann, wenn Beruf, Haushalt, Mann, Kind, Katze und Maus einen fast aufzufressen drohen. Ich nahm mir meine Auszeit. Nachdem der Jahresabschluss in der Schublade und der Chef zufriedengestellt war, nachdem ich für die Familie eine Woche im voraus gekocht und Katzen- und Mäusefutter für mindestens vierzehn Tage eingekauft hatte, stand einer Auszeit nichts mehr im Wege.
Februar war es und ich fuhr nach Föhr. Welcher Idiot fährt schon im Februar nach Föhr? Natürlich ich. Ausgestattet mit dicken Hosen und einem überdimensionalen Überlebensanorak trabte ich morgens an den Strand. Grau war sie, die Nordsee, und der Wind blies mir kalt ins Gesicht. Ich lief los, die Hände tief in die Taschen vergraben, die Kapuze übergezogen, da es nieselte. Ich atmete tief durch und sog den Duft des Meeres in mich hinein. Das Meer, es roch irgendwie nach Freiheit. Ich lief und lief und je weiter ich lief, um so mehr vergaß ich all die Probleme zu Hause, die Probleme im Büro, den Jahresabschluss, den zurückgelassenen Haushalt und den Schmutz, ich vergaß einfach alles. Ich spürte nur noch den Wind in meinem Gesicht. Kein Haus war zu sehen, nur Sand und Meer. Ich erschrak. Was würde sein, wenn mir hier etwas passierte? Nicht einmal mein Handy hatte ich mitgenommen. Man würde mich nie finden.
Ich blieb stehen und schaute aufs Meer. Weit und breit nur Wasser, nicht einmal ein Schiff. Und das alles gehörte mir allein. Das Meer, der Strand, der Sand und der Wind. So viel um mich herum.
Ich ging näher ans Wasser. Die Wellen umspülten sanft meine Schuhe und plätscherten so leise, als wenn sie mich beruhigen wollten. Ich blickte auf. Ein paar Möwen schwammen herum und schauten mich empört an, so, als wenn ich ungebeten in ihre stille Welt eingedrungen wäre.
"Was macht ihr denn hier draußen so allein?", fragte ich laut. "Futter hab ich keines", redete ich weiter, "ihr müsst selbst Fische fangen". Ich ging langsam zurück. Die Möwen schwebten hinter mir her.
"Wollt ihr mit zum Hafen kommen?", fragte ich. Sie schienen mich auszulachen. "Ja, lacht nur", sprach ich weiter. "Ist ja auch blöd, hier allein herumzulaufen. Aber ihr dürft mich begleiten und nebenbei können wir ein wenig plaudern". Sie lachten wieder.
"Wisst ihr was?", erklärte ich, während ich langsam am Strand weiterging, "ich gebe euch jetzt Namen. Dann können wir besser miteinander reden. Jeder braucht nämlich eine Identität. Sogar Vögel." Ich blieb stehen, schaute den Möwen zu und fühlte mich selbst wie eine Möwe. "Du heißt Karl-Heinz, dich nenne ich Hugo, du bist Fritz und du bist Herbert." Sie schwammen aufgeregt hin und her und übertönten sich selbst. "Lacht mich ruhig aus. Wenn die mich im Büro hören könnten, würden sie wahrscheinlich auch lachen." Ich setzte meinen Weg fort, die Möwen folgten mir.
"Ich freue mich, dass ihr mich begleitet. Ihr habt es wirklich gut. Soviel Wasser, soviel Wind, keine Probleme und ihr könnt fliegen, wohin ihr wollt." Sie gaben ihre Lachlaute von sich. "Ich beneide euch", sprach ich sinnend weiter. "Ihr müsst keinen Jahresabschluss machen und durch überheizte Büros hetzen, ihr müsst euch nicht durch Einkaufszentren quetschen, um Nahrung zu finden, ihr steht nicht auf der Autobahn im Stau und müsst euch nicht von den Abgasen vollpumpen lassen."
Ich ging wieder näher ans Wasser. Die Möwen kamen mir entgegen, wurden zutraulicher. "Schaut mal, wie schön es hier ist", sprach ich weiter. "Das Wasser ist so ruhig und klar. Die Wolken ziehen am Himmel dahin. Ihr habt soviel Platz, denn die Touristen sind auch noch nicht da. Wisst ihr was?", fragte ich die Möwen. "Ich freue mich, dass ich hier mit euch sein darf."
Langsam kamen die ersten Häuser in Sichtnähe. Die Möwen begleiteten mich weiter. Sie lachten und flogen durcheinander. "Ich bin gleich da", meinte ich. "Wollt ihr noch bis zum Hafen mitkommen?" Ganz langsam ging ich am Strand entlang und die Möwen folgten mir, bis ich die erste Kaimauer erreichte.
"So", sagte ich ein wenig traurig. "Jetzt bin ich wieder in meiner Welt. Was macht ihr jetzt?" Die Möwen lachten kreischend und machten sich auf den Rückweg. Ich stand an der Kaimauer und winkte ihnen nach. "Tschüss, Karl-Heinz, Hugo, Fritz und Herbert", rief ich ihnen nach. "Es war schön, euch kennengelernt zu haben. Und vielen Dank für die kurzweilige Unterhaltung während meines Rückweges."
Ich hatte den Eindruck, sie winkten mir ebenfalls mit ihren Flügeln zu, um sich von mir zu verabschieden.
Eine Weile blieb ich an der Kaimauer stehen und schaute ihnen nach. Dann wandte ich mich der zivilisierten Welt zu, ging in ein Cafe, trank einen Glühwein und dachte wehmütig an meine neue Bekanntschaft. Mein Gesicht war rot und heiß vom Wind, ich verspürte die wohlige Wärme des Glühweins in meinem Magen, empfand noch sanft das Gefühl von Freiheit und Meer und fühlte mich unendlich glücklich.
'Ach was', dachte ich, 'das waren doch nur Vögel. Wenn dich jemand gehört hätte, der hätte dich für verrückt erklärt!' Und doch - sie gaben mir "Auszeit" und das Gefühl, ein lebendiges Wesen und ein Teil dieser einzigartigen Welt zu sein.

© Monique Lhoir



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