Monique Lhoir (Monika Pallasch) Autorin in Tespe-Bütlingen Romane, Geschichten... und noch mehr
Monique Lhoir (Monika Pallasch)Autorin in Tespe-BütlingenRomane, Geschichten...  und noch mehr

Wenn die Sonne aufgeht

Sonnenaufgang

© Monique Lhoir

 

 

„Ta-u, erzählst du mir eine Geschichte aus der anderen Welt?“ Die achtjährige Dada nahm den Großvater an die Hand. Bereits den ganzen Morgen war Getrommel zu hören. Die Frauen des Dorfes bereiteten singend ein Festmahl vor. Jede Stunde trafen neue Tanten und Cousinen ein. Dada machte das Getrommel nervös, denn heute war der letzte Tag, an dem sie Kind sein würde, morgen früh sollte sie gereinigt und zur Frau gemacht werden. „Ich führe dich“, sagte Dada und zog an seiner Hand. „Lass uns zum Meer gehen. Dort kannst du sehen und mir erzählen.“

Dada blickte in die toten Augen des Dorfältesten, die sich in der Weite der Steppe verloren, erkannte das weise Lächeln um seinen Mund, denn Ta-u war klug, hatte in Europa studiert und dort viele Jahre gelebt. Er war zurückgekommen, als er sein Augenlicht verlor, um in seiner Heimat zu sterben. Dada liebte Großvater, weil er ganz anders war als die Männer des Dorfes, sich um die Kinder kümmerte und so viel Interessantes erzählen konnte.

„Dann führe mich, kleine Dada“, sagte Ta-u und stand auf. Vorsichtig zog sie den Großvater durch das Gehölz, bis es sich lichtete und sie gefahrlos das Meer erreichten. Im warmen Sand ließen sie sich nieder. Hier war es ruhig, die Trommeln nicht zu hören, nur das sanfte Ausrollen der Wellen. Dada spürte, wie sie sich entspannte, und ließ den Sand durch ihre Hände rieseln.

„Was siehst du, kleine Dada?“

„Die Sonne geht gerade unter. - Was tun die Mädchen in Europa?“, fragte sie. „Wann werden sie zur Frau gemacht?“

„Wenn die Zeit reif ist, kleine Dada“, sagte Ta-u.

„Wann ist die Zeit reif? Wird ihnen ein Fest bereitet?“

„In Europa werden die Mädchen später zur Frau. Es findet kein Fest statt, nur, wenn Frau und Mann es wünschen.“

„Wie werden sie zur Frau?“

„Dafür bist du noch zu klein“, erwiderte Ta-u und lächelte weise.

„Aber Großvater“, empörte sich Dada. „Morgen werde ich eine Frau sein.“ Sie lachte, stand auf und drehte sich tänzerisch im Kreis. „Monifa hat gesagt, je tapferer ich bin, umso wertvoller werde ich und bekomme einen reichen Mann.“

„Das sagt Monifa“, stellte Ta-u monoton fest. „Haben dir die Frauen erklärt, wie sie dich zur Frau machen?“

„Sie sagten, ich werde es spüren und stolz auf unsere Tradition sein. Ich darf nicht weinen und nicht schreien“, erklärte Dada.

„Möchtest du das?“

„Ich weiß nicht. Ich würde lieber lernen und studieren. Ich möchte für unser Volk arbeiten und es in der Welt vertreten, so wie du.“

„Komm zu mir.“ Ta-u streckte die Hand aus. „Setz dich.“ Dada spürte, wie er sie näher zu sich heranzog, den Arm um ihre Schulter legte und sie an sich drückte. Sie fühlte seine faltige, harte Haut, seine knöchrigen Finger auf ihrem Oberarm. Aber sie spürte noch mehr: Seine Liebe und die Gewissheit, dass er sie nie im Stich lassen würde. So blieben beide geraume Zeit schweigsam sitzen, lauschten dem Meer, bis die Sonne unterging.

 

Die Frauen hatten für die Mädchen eine besondere Hütte vorbereitet. Dada fand es interessant, so viele Cousinen zu haben, wobei sie die meisten überhaupt nicht kannte. Sie genoss das Festmahl und das große Aufhebens, das man um sie machte. Alle schwatzen aufgeregt durcheinander. Sogar ganz kleine Cousinen waren dabei, erst drei Jahre alt. Dada fühlte sich ihnen weit überlegen und genoss diesen besonderen Tag.

Funanya, ihre Mutter, und Lumusi, Großvaters Frau, kamen sie am späten Abend besuchen. Großvater hatte die Witwe seines Bruders nach alter Tradition geheiratet, als er ins Dorf zurückkam. Auch die Mütter und Großmütter der anderen Mädchen besuchten ihre Töchter in der Hütte.

Funanya strich Dada sanft über den Kopf. „Trink ab jetzt weder Wasser noch Milch“, sagte sie leise, „damit du nicht pinkeln musst.“

Dada wusste nichts damit anzufangen, aber sie nickte brav.

„Ich wecke dich morgen in der Frühe“, flüsterte Großmutter Lumusi. „Ich werde dich auf deinem Weg begleiten.“

Dada lag lange wach, ehe sie in einen Halbschlaf fiel. Sie hörte, dass sich die anderen Mädchen unruhig hin und her wälzten.

Es dämmerte, als Dada wahrnahm, dass eine ihrer Großtanten die fünfjährige Nia weckte und mit sich nahm. Es war soweit. Dada wurde munter. Sie schaute sich um, aber ihre Cousinen schliefen. Leise verließ sie ihr Lager und schlich hinter Nia her. Die Großtante brachte sie vor das Dorf und gebot ihr, sich auf einen Felsen niederzulassen. Monifa, die Schmiedin aus der Stadt, war anwesend. Die schwergewichtige Großtante umfasste Nias Schultern und drückte sie nach unten, so dass sie auf dem Felsen lag. Dann schlang sie die strammen Oberschenkel um den Körper des kleinen Mädchens und presste es auf den Felsen. Monifa spreizte die Beinchen des Kindes auseinander und begann, dazwischen zu hantieren. Nia stieß einen entsetzlichen Schrei aus, der nicht enden wollte, bis er plötzlich erstarb. Das kleine Mädchen war wie leblos.

Dadas Herz begann wild zu schlagen. War es das, was auf sie zukam? Unfähig, sich zu rühren, blieb sie in ihrem Versteck. Sie wusste, dass es verboten war, der Reinigung zuzusehen.

Monifa band Nias Beine mit Stoffbinden zusammen, wie bei einer Mumie. Dann nickte sie kurz. Die Großtante nahm das kleine Mädchen auf den Arm und verschwand in Richtung Dorf. Mit Entsetzen sah Dada, dass sich unterhalb des Felsens eine riesige Blutlache gebildet hatte, wie beim Abschlachten eines Tieres.

Dada wartete, bis die Tante mit Nia verschwunden war. Mit zitternden Beinen schlich sie zurück zum Dorf. Jetzt war Dada bewusst, was sie vorher hätte nicht wissen sollen. Mit Tränen in den Augen und am ganzen Leibe schlotternd verkroch sie sich wieder auf ihr Lager. Nia kam nicht zurück. Was hatte man mit ihr gemacht? Wohin hatte man das Kind gebracht?

Viele Gedanken wirbelten durch Dadas Kopf. Dumpf erinnerte sie sich, dass vor vielen Jahren Aman, ihre älteste Schwester, diesem großen Ereignis entgegensah. Dada hatte sie seitdem nie wieder gesehen. Sie nahm an, dass ihre Schwester einen reichen Mann gefunden hatte und nun glücklich irgendwo in der weiten Steppe lebte. Doch jetzt zerbrachen ihre Illusionen, sie glaubte nicht mehr daran.

Mucksmäuschenstill verhielt sie sich, als sie wahrnahm, dass ein weiteres Mädchen von ihren Verwandten geholt wurde. Dada lauschte in die Dämmerung, und auch jetzt vernahm sie nach kurzer Zeit die entsetzlichen Schreie des kleinen Kindes. Sie zitterte wie Espenlaub und überlegte, ob sie sich davonschleichen und in der Weite der Steppe verschwinden sollte. Aber wie würde sie dort allein überleben können?

Die Schreie verstummten. Niemand brachte das Mädchen zurück. Dada traute nicht, sich zu bewegen, bis sie sanft am Arm gerüttelt wurde.

„Dada, es ist soweit“, sagte Großmutter Lumusi. „Steh auf und sei tapfer, dann hast du es bald geschafft.“ Dada ließ sich hochziehen und aus der Hütte führen. Großmutter brauchte ihr gar nicht den Weg zu zeigen, sie kannte ihn schon. Mit gesenktem Kopf ging sie neben der alten Frau her.

„Monifa, hier bringe ich dir Dada, meine Enkelin, die Tochter von Funanya.“ Dada spürte, dass die alte Frau nicht so ruhig war, wie sie schien.

„Setz dich dorthin!“, befahl Monifa und zeigte auf den Stein. Dada blickte in ihre Augen, die kalt und wie leblos waren, aber sie sah auch das viele Blut, das unterhalb des Felsens langsam in den Sand sickerte.

Wie schon bei Nia postierte sich Lumusi hinter Dada, umschlang sie mit den Armen und legte ihre Oberschenkel um Dadas Körper.

Nein! Dada spürte plötzlich, wie das Zittern nachließ und ungeheure Kräfte ihren Körper durchfluteten. Das durfte nicht sein! Großvater hatte gesagt, die Mädchen in Europa würden viel später zur Frau gemacht und nicht so.

Sie holte tief Luft und schrie aus Leibeskräften: „ Großvater Ta-u! Hilf mir! Bitte hilf mir!“

„Still!“, zischte Lumusi und umfasste sie fester, wand ihre Oberschenkel mit aller Kraft um Dadas Körper. „Männer haben hier nichts zu suchen. Er kann dir nicht helfen.“

Dada erkannte, wie Monifa ihrem Beutel eine abgebrochene Rasierklinge entnahm, sie begutachtete und an ihrem Rock abwischte.

Noch einmal holte sie tief Luft und schrie in die Steppe hinaus: „Großvater Ta-u, hilf mir. Ich will nicht zur Frau gemacht werden ...!“ Erschöpft ließ sie sich zurückfallen. Sie merkte, dass ihre Kraft nicht gegen Lumusi und Monifa ankam, die jetzt geübt ihre Oberschenkel auseinanderpressten.

„Dada, steh auf und komm zu mir.“ Ta-us dunkler Bass erfüllte die Weite der Steppe. Sie spürte, wie sich die Umklammerung Lumusis lockerte und ihre Oberschenkel kraftlos wurden. Dada richtete sich auf und starrte direkt in Ta-us Gesicht.

„Ta-u, das ist kein Ort für Männer“, sagte Lumusi schwach.

„Das ist mein Dorf“, erwiderte Ta-u und verschränkte die Arme vor der Brust, „Dada, komm her. Du, Monifa, verschwindest aus meinem Dorf und lässt dich nie wieder blicken.“

Dada stand langsam auf, sah Monifa an, die den Beutel mit ihren Utensilien hektisch unter dem Rock verschwinden ließ. Die Augen der Beschneiderin funkelten wütend. „Im Namen Mohammeds ...“

„Schweig! Mohammed hat nie gewollt, dass seine Töchter sterben.“

Dada schlich sich an Großmutter Lumusi vorbei. Erkannte sie nicht ein Lächeln um ihre Mundwinkel?

„Führe mich zum Meer, damit ich sehen kann“, sagte Großvater Ta-u sanft und umschloss Dadas Hand.

 

Sie setzte sich zu seinen Füßen und starrte aufs Wasser.

„Was siehst du, kleine Dada?“, fragte er.

„Die Sonne geht gerade auf.“

„Du warst sehr mutig und klug“, sagte er leise. „Ich werde deinen Wunsch erfüllen. Wir fliegen nach Europa. Du wirst eine Schule besuchen, studieren, für unser Volk arbeiten und für unsere Frauen kämpfen.“

Sie spürte, wie der alte Mann seine Hand auf ihren Kopf legte. „Es ist nicht bedingungslos“, sprach er weiter, „denn du wirst in der neuen Welt für mich agieren, durch meine Augen sehen müssen. Ich werde dich nicht ständig begleiten und beschützen können. Gott hat die Frauen in ihrer Vollkommenheit geschaffen. Kein Mensch hat ein Recht, daran etwas zu ändern. Verstehst du das, kleine Dada?“

Sie sah zu ihm auf und nickte. „Das werde ich, Großvater.“ Sie wusste, dass sie heute zur Frau geworden war.

 

Druckversion | Sitemap
© Monique Lhoir