Monique Lhoir (Monika Pallasch) Autorin in Tespe-Bütlingen Romane, Geschichten... und noch mehr
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Rote Schuhe

 

Carlas Traum ging in Erfüllung. Zum ersten Mal saß sie in der Hamburger Staatsoper. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gewünscht „Carmen" zu sehen. Schon als junges Mädchen liebte sie die Oper, wollte einmal so schön und begehrt wie diese Zigeunerin sein.

Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag überraschte Alfred sie mit einer Eintrittskarte: Hamburger Staatsoper, erster Balkon, und eine Übernachtung im Hotel Vier Jahreszeiten. „Du musst aber alleine fahren", sagte er. „Du weißt, die Apfelernte. Und – das Geld hat nur für eine Karte gereicht." Carla strich Alfred über das vom Wetter gegerbte Gesicht, sah auf die ausgebeulte Arbeitshose und mit Lehmklumpen beschmutzten groben Schuhe.

„Wir können die Karte wieder zurückgeben. Ich muss nicht unbedingt ..."

„Nein." Er nahm sie ihn den Arm. „Du musst. Das Hotel war nicht teuer. Sie bieten an den Wochenenden Sonderpreise – Du hast es verdient. Viele schöne Jahre haben wir miteinander verbracht und du hast hart an meiner Seite gearbeitet. Ein bisschen Wellness tut dir bestimmt gut."

Carla überlegte lange, doch von Tag zu Tag freute sie sich mehr auf die Reise. Sie hatte in den Jahren ein wenig Geld zurückgelegt, nicht viel, aber für sie ein kleines Vermögen. Am Abreisetag plünderte sie ihr Sparbuch, setzte sich in Stade in den Zug und fuhr nach Hamburg.

 

Das Zimmer war eine Sensation. Verschämt betrachtete sie ihren ärmlichen Koffer, den der Page in den Raum gestellt hatte. Gekühlter Sekt stand bereit. Carla entkorkte die Flasche, füllte ein Glas und ging zum Fenster. Von hier aus hatte sie einen herrlichen Blick auf die Binnenalster und die Häuserfassaden. Ein Traum, wie in einem Märchen. Ob sich Carmen auch manchmal so gefühlt hat?

Beschwipst öffnete sie ein Seitenfach des alten Koffers. Lange hatte sie zu Hause Zeitschriften durchsucht und endlich das Bild eines Models gefunden, dass ihrer Meinung nach am ehesten der schönen Zigeunerin glich. Carla glättete das Blatt Papier, packte es in ihre Handtasche und verließ das Hotel.

Das Hanseviertel lag nur wenige Straßen entfernt. Zuerst steuerte sie einen Frisiersalon an und zeigte das Bild her. Die Friseurin sah sie skeptisch an, strich ihr durch die vom Dutt gelösten, langen und mit grauen Fäden durchzogenen Haare. Nach zwei Stunden waren sie dunkel gefärbt, in üppige Locken gelegt und umschmeichelten Carlas Gesicht.

Anschließend wurden ihre Augenbrauen gezupft, die Haut mit verschiedenen Cremes verwöhnt und mit zarten Farben geschminkt. Ein Viertel ihres gesparten Geldes ging dabei drauf, aber Carla war mit sich zufrieden und steuerte einen Modeladen an. Hier erstand sie ein weinrotes Abendkleid aus Taft und Chiffon mit tiefem Dekolleté sowie ein elegantes Stadtkostüm, das sie gleich anbehielt. Im Schuhladen wurde sie sofort wie eine Dame bedient, und verließ den Laden mit ein Paar hochhackigen, sündhaft teuren roten Pumps.

Vor einem Dessous-Laden blieb sie stehen und starrte in die Auslagen. Preise gab es keine. Unauffällig zählte sie ihr Restgeld und betrat den Laden.

Als Carla in der Oper saß, fühlte sie die Seidenwäsche wie zärtliches Streicheln. Das Satinkleid knisterte und raschelte darüber. Die halterlosen, mit Spitzen verzierten Strümpfe waren ungewohnt und sie spürte die Kühle auf der entblößten Haut zwischen Rand und Slip. Rote Lackschuhe zierten ihre Füße.

Das Orchester nahm die Plätze ein. Die Musiker begannen ihre Instrumente zu stimmen. Nach den ersten Tönen raste Carlas Herz vor Aufregung. Sofort fiel ihr der Cellist auf. Ein Mann mittleren Alters, gepflegt mit graumelierten Haaren. Wie vorsichtig er das Cello ergriff, seine Hand um den Hals des Instrumentes legte und die Finger spielerisch über die Saiten gleiten ließ. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden, auch dann nicht, als die Ouvertüre einsetzte. Er führte den Bogen leicht wie eine Feder. Seine Hand schien am Ende des Musikstücks in der Luft zu schweben und damit die Töne in den Saal zu geleiten, die Wände vibrieren zu lassen, wo sie schließlich in Carlas Magen ein Zittern erzeugten. Sie sah nicht auf die Bühne, nicht auf Carmen, nahm nur seine Hände wahr, die zärtlich und kraftvoll zugleich dem Instrument die herrlichsten Laute entlockten. Das waren nicht Alfreds grobe, dunkle Hände, die Äpfel im alten Land von den Bäumen pflückten.

 

* * *

 

José packte das Cello aus dem Koffer und lehnte es vorsichtig an die Wand des Hotelzimmers. Er betrachtete das edle Holz und verglich die vollendete Form des Instruments mit der einer Frau, mit ihren weichen Rundungen von Hüfte, Taille und Busen. Das Griffbrett mit seinen Saiten erschien ihm wie ihr Hals, schlank und verletzbar. Seine Augen leuchteten. Frauen waren für ihn wie Blumen, wie der Frühling, blühten zart auf, entfalteten sich schnell zur vollen Schönheit, um genauso rasch wieder zu verblühen. Vorsichtig strich er über die Saiten des Cellos und drückte wie zum Akkord fest zu.

Er wandte sich ab, ersetzte die Theaterkleidung durch einen schwarzen Kaschmirpullover, faltete sorgfältig das weiße Hemd zusammen und legte die Fliege darauf. Er schaute kurz in den Spiegel und ging in die Hotelbar. Wie immer, nach seinen Konzerten, bestellte er sich einen dunklen Burgunder. Die Reifen waren die Besten. Die Bar war schwach beleuchtet, auf den Tischen flackerten Kerzen und nur vereinzelt saßen Pärchen in den roten Plüschsesseln. Ein Klavierspieler klimperte in einer Ecke „Rhapsody in Blue", mehr recht als schlecht, wie José fand. Jeder falsche Ton tat seinem Gehör weh. Er liebte den Perfektionismus und hatte kein Verständnis für all jenes, das nicht perfekt war.

Sie war perfekt. Er schaute in den Spiegel über die Bar. Sie saß allein in einem der roten Plüschsessel. Bescheiden, dezent, in voller Blüte – kurz vor dem Verfalldatum. José trank einen Schluck des Burgunders und schmeckte die Reife der Frucht. Das war es, was er liebte. Er hatte sie in der Oper gesehen und bemerkt, dass sie nicht ihre Augen von ihm lassen konnte, ihn ständig beobachtete. Wie ein rotes Tuch wippte ihr Fuß mit den auffälligen Schuhen auf und ab und er fühlte, dass etwas zwischen ihnen war, etwas ganz Besonderes. Sie war wie edles Holz, aus dem man gute Instrumente schnitzen kann.

José ließ sich Zeit, beobachtete, genoss und trank seinen Burgunder aus. Danach bestellte er zwei neue Gläser des edlen Getränks, winkte dem Ober, um sie an den Tisch der Frau bringen zu lassen und ging zu ihr hinüber.

„Gnädige Frau", verbeugte er sich, „Sie sollten diesen Wein probieren. Der ist Ihrer würdig. Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

Carla war irritiert, überrascht, überrumpelt, reichte ihm die Hand, die er nach alter Manier küsste. Sah er nicht die Risse der harten Arbeit darin? Sie atmete tief durch, spürte die Seide der zarten Wäsche auf ihrer Haut, die Kühle zwischen Spitzenrand der Strümpfe und Slip. Sie schlug die Beine übereinander, um der Kälte zu entgehen. Der Schlitz des Abendkleides gab mehr frei, als sie beabsichtigte. Sie versuchte, es etwas hinunterzuziehen, doch der glatte Stoff ließ es nicht zu.

„Lassen Sie das", sagte José mit amüsiertem Blick, nahm den Weinpokal in die Hand und prostete ihr zu. „Gönnen Sie einem alten Mann diesen bezaubernden Anblick." Mit seinen Fingern strich er leicht über den Ansatz der Spitzenstrümpfe. Auf Carlas Haut bildete sich eine Gänsehaut. „Trinken Sie." Er reichte ihr das Glas. Carla schloss die Augen, trank es leer, hörte das Klavierspiel des Musikers und fühlte sich wie Carmen in Sevilla.

Als sie die Augen öffnete, sah sie in das Gesicht von José, das nah an ihrem war. Sie hörte nicht mehr den Klavierspieler, dafür die Ouvertüre aus „Carmen". Entblößt, nur in ihrer Spitzenwäsche und den roten Schuhen lag sie in ihrem Zimmer auf dem ausladenden, luxuriösen Bett, das teure Abendkleid achtlos zusammengeknüllt daneben. Es störte sie nicht – nur Jóses Hände waren wichtig. Diese sehnigen, sanften Hände, die den Rändern der Spitzen ihre Wäsche entlang fuhren, Konturen malten, sacht ihre Haut berührten. Oh wie sehr hatte sie sich in der Oper gewünscht, von diesen Händen gestreichelt zu werden. Alfred hatte Recht: nur einmal im Leben Carmen spielen, nur einmal im Leben so spüren wie sie. Alfred! Er wusste, was sie sich wünschte und was sie fühlte –. Morgen würde sie ihm in Stade bei der Apfelernte helfen, sich die Holzschuhe anziehen und das Kopftuch umbinden, sein vom Wetter gegerbtes Gesichts streicheln und seine tiefe Liebe fühlen – Alfred! Carla schloss genussvoll die Augen, als sie spürte, dass sich Josés Hände um ihren Hals legten, jede einzelne Sehne abtasteten, mit ihnen wie auf einem Cello zu spielen schienen, sie liebkosten – bis sie plötzlich kraftvoll zudrückten.

 

José stand traurig, aber tief befriedigt auf – wie schon so oft. Die Ouvertüre war beendet. Sie lag dort, formvollendet, in der Blüte ihres Daseins, erlöst von der Schmach des Alterns und des Vertrocknens. Wunderschön anzusehen, in edler Spitze gekleidet – noch rechtzeitig vor dem Verfall. Er streifte ihr die roten Schuhe ab und steckte sie ein. Dann ging er auf sein Zimmer, nahm sein Cello, strich über die Rundungen des Instruments, über das edle Holz, griff den Bogen und spielte aus „Carmen". Er schloss die Augen: Morgen gab er ein Konzert in Moskau und er würde perfekt sein – wie immer.

 

© Monique Lhoir



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