Nach Herausgabe des Hexenhammers im Jahre 1488 wurden in 150 Jahren ca. 30.000 Hexen und Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. So fielen z.B. zwischen 1587 und 1593 in Trier insgesamt 368
sogenannte Hexen dem Feuertod zum Opfer. Von 1623 bis 1633 starben in Bamberg mehr als sechshundert Menschen den Flammentod. In den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts verbrannte der Fürst von
Würzburg neunhundert Personen ...
(Dorf bei Cölln, 1488/89)
"Es passt mir nicht, dass Sarah ständig bei der alten Agatha ist", sagte Jonathan ungewöhnlich ernst zu seiner Frau, ohne von seiner Zeichnung aufzublicken.
Maria schaute ihn erschrocken an. So kannte sie Jonathan nicht.
"Agatha, die Hebamme? Was hast du gegen Agatha? Sie ist eine weise, alte Frau, die sich mit der Natur beschäftigt und friedlich in ihrer Hütte im Wald lebt. Sarah ist gerne bei ihr und lernt dort
viel."
"An der Kirchtür gibt es einen Anschlag", sprach Jonathan sorgenvoll weiter. "Morgen wird in unserem Ort eine Abordnung der Inquisition erwartet. Ich habe vom Apotheker erfahren, dass es ein neues
Gesetz geben soll. Man nennt es den "Malleus Maleficarum", den Hexenhammer. Es ist gerade erschienen."
Jonathan machte eine bedeutungsvolle Pause.
"Weiterhin habe ich vom Apotheker erfahren, das dieses neue Gesetz alle anderen Gesetze widerlegt und umkehrt. War es vorher Häresie, an Hexerei nur zu glauben, so gilt jetzt das Gegenteil. "Nicht"
an Hexerei zu glauben ist "Ketzerei". Dieses neue Gesetz soll genaue Richtlinien aufzeigen, wie Hexen aufgespürt und überführt werden sollen, bis hin zur Prozessführung. Aus den Städten und Dörfern,
die schon aufgesucht wurden, werden schreckliche Verfolgungen und Verbrennungen berichtet, schlimmer als je zuvor. In einem Dorf haben nur drei Frauen überlebt, so weiß der Apotheker zu
berichten."
Maria erblasste.
"Und was hat das mit Agatha zu tun? Sie genießt aufgrund ihrer Fähigkeiten bezüglich der Niederkünfte das Vertrauen aller Frauen im Ort. Sie kennt sich auf diesem Gebiet besser als der Dorfarzt aus.
Außerdem hat sie für unser aller Leiden immer eine Arznei bereit. Sie hat geholfen, Sarah lebend zur Welt zu bringen, vergiss das nicht, Jonathan."
"Das ist es gerade. Wie der Apotheker weiter sprach, sind gerade die Frauen besonders verdächtigt, die sich auf dem Gebiet der Geburtshilfe auskennen, da sie nach dem neuen Gesetz die Kraft besitzen,
Kinder tot zur Welt zu bringen, um sie dann dem Teufel zum Opfer darzubieten."
Maria hielt sich erschrocken die Hand vor dem Mund.
"Jonathan, ich hatte zwei Totgeburten."
"Ich weiß, Maria," sprach Jonathan bekümmert weiter. "Trotzdem möchte ich, dass Sarah zukünftig das Haus nicht mehr verlässt, solange, bis die Abordnung wieder weg ist."
Maria nickte stumm und hoffte insgeheim, dass ihr Dorf von diesem Schrecken, den Jonathan zu berichten wusste, verschont bleiben würde.
***
Sarah ging singend nach Hause. Unterwegs blieb sie mal hier und mal da stehen, bückte sich und pflücke dieses oder jenes Kraut, so, wie sie es von Agatha gelernt hatte. Zu Hause würde sie es trocknen, um später Tees daraus brauen zu können. Sie liebte die Natur und wer weiß, ob sie in drei Monaten noch die Zeit haben würde, sich damit zu beschäftigen. Dann würde sie Simon heiraten und sicherlich bald Kinder bekommen. Sie hatte gerade ihr dreizehntes Lebensjahr vollendet und war somit heiratsfähig. Sie war glücklich. Simon kannte sie von klein auf. Er wohnte im Nachbarhaus, beide waren zusammen wie Geschwister aufgewachsen und es war schon immer klar gewesen, dass sie ein Paar werden würden. Simons Eltern hatten sie von jeher wie eine eigene Tochter behandelt und sie genauso gut behütet wie ihre eigene Familie.
Sarah betrat gut gelaunt die kleine Küche, umarmte erst ihre Mutter, dann ihren Vater. Beide schwiegen.
"Was habt ihr?", fragte sie ihre Eltern, da sie diese noch nie so bedrückt gesehen hatte.
"Sarah, du wirst ab jetzt nicht mehr zur alten Agatha rausgehen", sagte ihr Vater streng.
"Warum? Was habe ich getan?"
Jonathan sah von seiner Zeichnung auf. "Eine Abordnung der Inquisition wird morgen in unserem Dorf erwartet. Ich möchte, dass du im Hause bleibst."
"Und zu Simon? Darf ich da auch nicht rübergehen?"
"Nein", erwiderte ihre Mutter. "Erst wieder, wenn die Inquisitoren das Dorf verlassen haben. Und binde deine Haare fest zu Zöpfen zusammen, stecke sie am Kopf fest und setze deine Haube auf. Du
siehst aus wie eine Wilde."
Sarah schüttelte verständnislos den Kopf und ihre üppigen schwarzen Locken wirbelten dabei umher.
Am nächsten Tag blieb sie im Hause, half ihrer Mutter beim Putzen und Kochen, während Jonathan sich weiterhin mit seinen Zeichnungen beschäftigte. Es herrschte eine bedrückende Stille. Irgendwann, am Nachmittag, sahen sie die Delegation an ihrem niedrigen Fenster in Richtung Dorfmitte ziehen. Eine beängstigende Prozession von in braunen Kutten gekleideten Männern.
Sarah hatte Simon den ganzen Tag nicht gesehen. Als es dunkel und sie sich gewiss war, dass ihre Eltern schliefen, huschte sie trotz Verbots durch die Hintertür zum Nachbarhaus. Ihre Haare hingen ihr lose über die Schultern. Sie sah, dass die niedrige Wohnstube noch erleuchtet war, und so schlüpfte sie - wie sie es auch schon früher getan hatte - durch die Kellertür und stieg die Lehmstufen zur Küche hinauf, in der Hoffnung, Simon und seine Eltern dort anzutreffen.
Im Kerzenschein sah sie als erstes Simon, der auf den Knien lag. Seine Hände waren auf dem Rücken mit Stricken zusammengebunden. Aus Nase und Mund tropfte Blut und ein Auge war verquollen. Sarah
schrie entsetzt auf und wollte zu Simon eilen.
"Sarah, verschwinde. Schnell!", rief er ihr qualvoll zu. Aber im selben Moment wurde auch sie schon von hinten gepackt, festgehalten und weiter in die Küche hineingezerrt.
"Wen haben wir denn da?", fragte jemand. "Dieses Haus ist ja eine wahre Fundgrube."
"Lasst mich los", schrie Sarah erschrocken und versuchte, sich dem Griff zu entwinden.
"Schweig, Weib", herrschte man sie an und zwang sie ebenfalls zu Boden. Mit Entsetzen erfasste sie die ganze Situation. Simons Mutter kauerte weinend in einer Ecke. Ihre sonst immer straff zu einem
Knoten gebundenen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Auch ihre Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden, die Bluse war zerrissen und ihre Augen angstgeweitet.
Simons Vater lag zusammengeschlagen mitten im Raum, rührte sich nicht. Aus einer Platzwunde am Kopf quoll Blut hervor. Sarah wollte schreien, wollte zu Simon, aber kein Ton drang aus ihrer
Kehle.
"Abführen", hörte sie eine energische Stimme. Erbarmungslos riss man Simon und seine Mutter hoch und zerrte sie aus der Stube. Gleichwohl Simons Vater, der noch immer nicht in der Lage war, auf
seinen Beinen zu stehen. Er taumelte benommen voran. Auch Sarah wurde gepackt und die kleine Gruppe wurde in Richtung Marktplatz getrieben.
"Wo bringt Ihr uns hin?", fragte Sarah weinend. "Ich muss nach Hause, meine Eltern werden mich vermissen." Keine Antwort. Eine Faust wurde ihr in den Rücken gestoßen als Zeichen, dass sie sich in
Bewegung zu setzen hatte.
Sarah weinte lautlose Tränen und Simon schaute immer wieder verzweifelt und voller Angst zu ihr hinüber.
Im alten Ratsgebäude wurden sie in die Kellergewölbe gebracht. Die Wache öffnete eine Tür zu einer Zelle, in die man Simon und seinen Vater sperrte. Simon schaute sich noch einmal verzweifelt nach
Sarah um. Sie erhaschte seinen Blick, der traurig die Frage stellte: 'Werden wir uns jemals wiedersehen?'
Sarah nickte leicht, doch dann wurde auch sie in eine dunkle Zelle gestoßen. Nur schwer konnten sich Sarahs Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Langsam tastete sie sich die kalte Steinwand entlang, bis
sie erschrocken an einen warmen Körper stieß, der am Boden kauerte und wimmerte. Sie rutschte mit dem Rücken die Mauer hinunter. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Finsternis und sie blickte
direkt in das Gesicht der Apothekerin. Erschrocken hielt sie ihre Hand vor den Mund, denn das Gesicht der alten Frau war so verquollen und entstellt, dass sie sie fast nicht erkannt hätte.
"Wir sind alle Hexen", jammerte die Apothekerin wirr. "Jeder ist eine Hexe. Wir werden verbrannt. Oh Gott. Wir werden alle verbrannt." Sarah legte beruhigend ihren Arm um die alte Frau und wiegte sie
wie ein Kind hin und her. Sie schien dies nicht einmal wahrzunehmen und brabbelte ununterbrochen weiter.
'Was haben sie nur mit dieser alten Frau gemacht?' Ganz langsam kroch auch in ihr die Angst hoch und schnürte ihr die Kehle zu.
Irgendwann übermannte sie die Müdigkeit. Sie erwachte, als erneut die Zellentür aufging und unter Geschrei und Gezeter jemand hineingestoßen wurde. Sarah sprang auf, als sie die Stimme
erkannte.
"Agatha! Du auch hier? Was haben sie mit dir gemacht?"
"Sarah, Kindchen, was machst du denn hier", erwiderte die alte Hebamme. "Diese Teufel", und sie schüttelte ihre Fäuste in Richtung Tür. "Diese Teufel bezichtigen mich der Hexerei. Mich, die alle
Kinder unseres Dorfes zur Welt gebracht, immer nur geholfen hat und für jede Krankheit ein Mittel hatte. Diese Teufel wollen uns vernichten. Aber Gott wird sich rächen!", schrie sie in Richtung
Tür.
"Ruhig", sagte Sarah leise und umarmte die Alte, die für sie wie eine Großmutter war. "Die Frau des Apothekers ist auch hier unten. Aber sie ist völlig verwirrt", flüsterte Sarah besorgt weiter. "Ich
weiß nicht, was man mit ihr gemacht hat."
Agatha schaute sich die Apothekerin fachmännisch an und befühlte ihre Glieder.
"Man hat sie gefoltert und schrecklich zugerichtet", sagte sie deprimiert und strich der alten Frau sanft übers Gesicht. "Wahrscheinlich hat man sie auf diese Art und Weise dazu gezwungen, weitere
Namen preiszugeben."
"Du meinst, deshalb war die Inquisition auch bei Simons Eltern? Aber, was haben die mit Hexerei zu tun?"
"Das weiß nur Gott", erwiderte Agatha und nahm Sarah beruhigend in den Arm.
Der Morgen dämmerte schon, als Sarah durch einen gellenden Schrei aus ihrem unruhigen Schlaf aufgeschreckte. Ihr Glieder waren starr vor Kälte und Feuchtigkeit. Zwei Männer mit schwarzen Kapuzen,
die nur die Augen frei ließen, packten die Apothekerin und schleiften sie aus der Zelle. Diese jammerte erbärmlich und versuchte, sich zu Boden zu werfen.
"Ihr feigen Mörder", fauchte Agatha die Schwarzkapuzen an. "Seht ihr nicht, dass die arme Frau zu schwach ist?"
"Schweig, Hexe", ertönte es höhnisch. "Du kommst auch noch dran."
Die Zellentür wurde wieder verschlossen.
"Was werden sie mit ihr machen?" Sarah blickte Agatha fragend an.
"Tja, Kindchen", erwiderte Agatha und schaute sie eindringlich an. "Du wirst jetzt ganz tapfer sein müssen. Sie werden ihr den Prozess machen. Im günstigsten Falle, wenn sie sofort gesteht und
bereut, wird man sie sofort verbrennen. Im schlimmsten Falle, wenn sie sich nicht als Hexe bekennt, wird man sie so lange foltern, bis sie gesteht und sie anschließend verbrennen."
"Oh, mein Gott", wimmerte Sarah. "Und was werden sie mit uns machen? Was passiert mit Simon und seinen Eltern?" Agatha schwieg.
"Vertrau auf Gott", erwiderte sie nach einer Weile und wiegte sie wie zu ihrer Kinderzeit in ihrem Arm.
So verbrachten die beiden Frauen schweigend Stunde um Stunde. Die Apothekerin wurde nicht zurückgebracht.
Wie lange Sarah so verharrte, wusste sie nicht mehr. Zwischendurch dämmerte sie immer wieder ein und wenn sie aufschreckte, streichelte Agatha ihr beruhigend über den Kopf. Doch dann wurde die
Zellentür wieder aufgestoßen. Die Kapuzenmänner griffen sich Agatha, die sich wehrlos abführen ließ, aber noch einmal zu Sarah zurückblickte und eindringlich sagte: "Sei stark, mein Kind, und
verliere nicht dein Gottvertrauen. Ich bin alt und habe nichts mehr zu verlieren", und lächelte Sarah sogar aufmunternd zu.
Und so blieb Sarah allein zurück. Sie schlotterte vor Angst am ganzen Körper, hatte seit vielen Stunden nichts mehr gegessen, nichts mehr getrunken, ihre Lippen waren rau und aufgesprungen. Man schien sie einfach vergessen zu haben. Zwischendurch musste sie sich mehrmals entleeren und sie schämte sich, wenn sie die Rinnsale über den Boden laufen sah und starrte stumpfsinnig hinterher. Ab und zu meinte sie, eine Ratte durch das Kellergewölbe huschen zu sehen, aber auch das war ihr gleichgültig.
Irgendwann hörte sie Schritte näherkommen und war vor Schreck wie gelähmt. Würden die Kapuzenmänner nun auch sie holen? Sarah hatte ihren Körper vor Angst kaum noch unter Kontrolle, als die Zellentür aufging und zwei Männer mit Pechfackeln die Zelle betraten. Einer der beiden zog sie unsanft hoch. Vor Hunger und Müdigkeit war Sarah so geschwächt, dass sie gleich wieder auf den Boden zurücksank. Unbarmherzig wurde sie wieder hochgerissen, unter den Armen gepackt und mit schleifenden, nackten Füßen die Treppe hochgezogen. Man führte sie auf den Innenhof des Ratsgebäudes, steckte sie in einen Korb und zog sie hoch, so dass sie ein paar Meter über dem Boden baumelte. Verwirrt blickte sie um sich. Es war früher Morgen und die ersten Nebelschwaden stiegen nach oben. Der Hof war von Peckfackeln erleuchtet, die ein gespenstisches Licht abgaben.
Auf einer provisorisch aufgestellten Bühne erkannte sie einige Männer in braunen Kutten, die sich erhoben, als ein älterer Mann, ebenso gekleidet, den Platz betrat.
"Heil dem Großinquisitor!", rief jemand mit lauter Stimme und die Menge rief zurück: "Heil dem Großinquisitor!"
Der Alte betrat die Tribüne, setzte sich in die Mitte und legte ein Buch, welches er in der Hand hielt, auf den Tisch. Dann legte er seine Hand darauf und sprach zu den Anwesenden: "Mit den Worten
des rechtmäßigen und einzige wahren Maleus Maleficarum: Da Wir, der Großinquisitor, aus vollem Herzen ersehnen, dass das uns anvertraute christliche Volk in der Einheit und Klarheit des katholischen
Glaubens von aller Pest der ketzerischen Verkehrtheit ferngehalten werde, geben Wir Anweisung, man möge enthüllen, wenn jemand weiß, gesehen oder gehört hat, dass irgendeine Weibsperson als Ketzerin
oder Hexe übel beleumundet oder verdächtig sei. Und so, nach dem Sinne dieser Vorschrift, eröffnen Wir diesen Prozess."
Sarah baumelte immer noch in ihrem Korb einige Meter hoch über der Tribüne und sank vor Angst in sich zusammen.
Ein Kapuzenmann stand auf.
"Ehrenwerter Richter, gelehrte Versammlung", sprach der Mann mit klarer Stimme. "Ich präsentiere diesem hohen Gericht Sarah, die Tochter des Malers."
"In welcher Eigenschaft?"
"Als Angeklagte, hohes Gericht."
"Und welcher Verbrechen beschuldigt Ihr sie?"
"Der Hexerei."
Der Mann setzte sich wieder und der Alte sprach weiter: "Ich beschwöre dich bei den bitteren Tränen der Jungfrau Maria, die sie um ihren Sohn Jesus Christus am Kreuze zum Heile der Menschheit
vergossen hat, dass du, Sarah, sofern du unschuldig bist, Tränen vergießt. Wenn du schuldig bist, auf keinen Fall. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes." Und er bekreuzigte
sich.
Sarah war so verschreckt, dass sie keinen Ton herausbrachte und sich nur mit Müh und Not auf den Beinen halten konnte.
"Sarah, Tochter des Malers, wir stellen nunmehr die Frage: Hast du dich der Sünde schuldig gemacht, dir die Künste der Hexe Agatha zu eigen zu machen?"
Sarah schüttelte verständnislos mit dem Kopf.
"Antworte mir, Hexe!"
"Nein", antwortete Sarah mit zitternder Stimme.
Der Alte sprach ungerührt weiter: "Bist du schuldig der Sünde, ahnungslose Männer umgarnt und ihnen die Männlichkeit gestohlen zu haben?"
Er holte tief Luft.
"Und bist du schuldig der Sünde, Sodomie und andere unnatürliche sexuelle Praktiken gepflegt zu haben?"
"Nein!", schrie Sarah, darüber entsetzt, dass man ihr derartige Dinge unterstellte.
"Und bist du schuldig der Sünde, dich in die Praktiken der Hexe Agatha einweisen zu lassen, die Totgeburten hervorgerufen hat, um diese dem Teufel zu weihen?"
"Nein." Sarah verstand nicht, was man ihr da vorwarf. "Agatha ist wie eine Großmutter zu mir. Sie hilft den Menschen mit den Arzneien, die sie herstellt."
"Sie vergießt keine Tränen," hörte sie es von irgendwoher murmeln und tuscheln und plötzlich schwollen die Stimmen an:
"Verbrennt die Hexe! Die Hexe soll brennen!"
Sarah sah entsetzt auf die Menge. Der Alte erhob wieder seine Stimme: "Sarah, Tochter des Malers und Hexe, wir befehlen dir zu schwören, dass du die dir zu Last gelegten Sünden begangen hast."
"Nein", wimmert Sarah und fiel noch mehr in sich zusammen. "Ich habe nie etwas derartiges getan."
"Man führe die Zeugen vor!", brüllte der Alte erzürnt.
Sarah blinzelte über den Korb und sah, dass man vier Gestalten mit Leinensäcken über dem Kopf auf den Platz führte, worunter zwei Frauen waren, wie sie an ihren Röcken erkennen konnte.
"Die erste Zeugin trete hervor", befahl der Alte und eine Frau wurde auf die Tribüne geführt. Dann nahm man ihr den Leinensack ab.
"Mutter!", schrie Sarah entsetzt auf, als sie die Frau erkannte.
"Schweig, Hexe!", brüllte der Alte sie an.
Sarah schwieg wie benommen. Fassungslos erkannte sie, dass ihre Mutter fürchterlich zugerichtet war und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ihre Augen wirkten fiebrig und rollten unkontrolliert
hin und her.
"Zeugin", sprach der Alte sie an. "Schwöre, dass du die Wahrheit sagst und nichts als die Wahrheit, so wahr dir Gott helfe."
Sarahs Mutter sackten die Beine weg und flüsterte irgend etwas.
"Lauter Zeugin, wir können dich nicht verstehen."
"Ich schwöre", kam es leise zurück.
"Zeugin, ist es richtig, dass die Hexe Sarah deine Tochter ist?"
Sarahs Mutter schwieg.
"Zeugin, du hast hier zu antworten", fuhr der Alte ihre Mutter an und die zwei Kapuzenmänner richteten sie wieder auf, so dass sie den Alten ansehen musste.
"Ja", flüsterte sie.
"Und ist es richtig, dass du zwei Totgeburten hattest?"
"Ja."
Sarah erschrak. Sie wusste, dass ihre Mutter zweimal schwanger gewesen war und die Kinder tot geboren wurden. Sie wäre bald daran gestorben, hätte Agatha ihr nicht mit ihren heilenden Kräutern zur
Seite gestanden.
"Und ist es richtig, dass bei allen Geburten die Hexe Agatha anwesend war?"
"Ja."
"Führt sie ab," sprach der Alte weiter.
"Verehrtes Tribunal, damit ist erwiesen, dass die einzige Lebendgeburt der Maria, Frau des Malers, nämlich die Tochter Sarah, geboren unter der Aufsicht der Hexe Agatha von genau dieser dem Teufel
geweiht wurde und damit eine Hexe ist."
"Nein", schrie Sarah wieder und starrte ihrer Mutter hinterher, die sich teilnahmslos abführen liess.
"Bringt den nächsten Zeugen", sprach der Alte ungerührt weiter.
Diesmal wurde einer der Männer auf die Tribüne geführt. Ebenso wie vorhin bei ihrer Mutter wurde der Sack von dessen Kopf gezogen und sie erkannte ihren Vater. Seine Augen waren so geschwollen, dass
er sie kaum öffnen konnte. Auch er brach immer wieder in sich zusammen.
"Zeuge, schwöre, dass du die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit sagst, so wahr dir Gotte helfe."
Sarah blickte stumm und traurig auf ihren Vater, den sie nur stark, kräftig und stolz kannte und der jetzt so gebeugt und erniedrigt auf der Tribüne stand. Für sie war es unfassbar, was um sie herum
passierte. Ein Alptraum? Würde sie gleich einfach erwachen?
Auf die Frage des Alten nickte ihr Vater nur schwach.
"Zeuge Jonathan, ist es richtig, dass deine Frau Maria zwei Totgeburten hatte?"
Ihr Vater blickte den Alten hasserfüllt an.
"Antworte, Zeuge", herrschte dieser ihn an.
"Ja."
"Und ist es richtig, dass bei allen drei Geburten die Hexe Agatha anwesend war?"
"Ja."
"Und ist es weiterhin richtig, dass du Zeichnungen von Hexen und Ketzern angefertigt und diese Götzenbilder verkauft hast?"
"Das waren Portraits", empörte sich ihr Vater.
"Schweig. Damit erkläre ich dich der Ketzerei für schuldig, da du mit dem Teufel und seinen Hexen eindeutig im Bunde bist. Abführen."
Sarah verstand nichts mehr. Ihr Vater hatte Bilder angefertigt, wenn die Dorfbewohner darum baten und sich so seinen Unterhalt verdient. Sarah hielt ihren Vater für einen großen Künstler, der sehr
lebendig malen konnte.
"Hexe", fuhr der Alte sie wieder an. "Erkennst du dich jetzt schuldig und vergießt Tränen der Reue?"
Sarah schüttelte stumm und ungläubig mit dem Kopf.
"Führt den nächsten Zeugen vor", brüllte der Alte ungehalten und der nächste Mann wurde auf die Tribüne gebracht. Instinktiv wusste Sarah, wer es sein würde und war auch nicht überrascht, als man den
Leinensack von Simons Kopf zog.
Sarah schnürte es das Herz zusammen, als sie Simons zerschundenes Gesicht sah. Er wirkte apathisch, als ob er betäubt worden wäre. Sie versuchte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, doch es gelang ihr
nicht, Simons Kopf fiel immer wieder auf seine Brust hinunter und er musste von zwei Kapuzenmännern gehalten werden.
'Ach Simon, guter, armer Simon', dachte Sarah verzweifelt. 'Was haben sie nur mit dir gemacht!'
"Zeuge", herrschte der Alte ihn an und sagte erneut seinen Spruch auf.
'Wahrheit', dachte Sarah traurig dabei. 'Sie verdrehen alles so, dass man gar nicht anders antworten kann.'
"Zeuge, ist es richtig, dass dich die Hexe Sarah in der Nacht besuchen kam, um dich deiner Manneskraft zu berauben?", fragte der Alte.
Simon schüttelte verneinend mit dem Kopf.
"Zeuge, ist es richtig, dass die Hexe Sarah dich in der Nacht besuchen kam?", fragte er Alte eindringlich.
Simon blickte auf.
"Antworte", herrschte ihn der Alte an.
"Ja", sagte Simon leise.
"Womit bestätigt ist, dass sie dich besuchen kam, um dich deiner Manneskraft zu berauben", sagte der Alte triumphierend. "Warum sonst sollte sie dich des Nachts besuchen kommen?"
"Sarah wird meine Frau", erwiderte Simon schwach. "Wir heiraten in drei Monaten."
"Verehrtes Tribunal, damit ist erwiesen, dass die Hexe Sarah den Zeugen Simon behext, in ihre dunklen Machenschaften mit einbezogen und ihn somit zu einem Ketzer gemacht hat. Abführen."
Simon wurde wieder weggebracht.
"Hexe, gibst du nun zu und bereust?", fragt der Alte sie eindringlich.
"Ich habe nichts verbrochen", wimmerte Sarah. Sie begriff immer noch nichts.
"Du bist uneinsichtig," herrschte der Alte sie an.
"Brennt die Hexe! Brennt die Hexe!", kam es plötzlich von allen Seiten und sie kauerte sich in ihrem Korb ängstlich zusammen.
"Verehrtes Tribunal, wir wollen nun die letzte Zeugin hören, die sie eindeutig als Hexe überführen wird, so dass Wir, das hohe Gericht, ein gerechtes Urteil fällen können."
Die letzte Zeugin wurde auf die Holztribüne geführt. Sie humpelte stark und Sarah erkannte, dass sich die Frau nur unter großer Mühe aufrecht hielt. Der Sack wurde ihr abgenommen und Sarah
erkannte Agatha, die aber im Gegensatz zu Simon und ihren Eltern aufrecht stand und ihren Kopf stolz hochreckte.
"Hexe Agatha," sprach der Alte sie verächtlich an. "Schwöre, dass du die Wahrheit sagst und nichts als die Wahrheit, so wahr dir Gott helfe."
"Geh zum Teufel", erwiderte Agatha und hob trotzig ihr runzeliges Kinn.
"Hexe Agatha, da du erwiesener Maßen im Bunde mit dem Teufel bist und bereits wegen Ketzerei verurteilt wurdest, möchten wir von dir wissen: Hast du, Hexe Agatha, Sarah, die Tochter von Jonathan und
Maria, nach ihrer Geburt dem Teufel geweiht?"
"Ich habe Sarahs Mutter geholfen, ihre Tochter zur Welt zu bringen. Das ist richtig. Es war eine schwere Geburt."
"Schweig. Du hast hier nur mit Ja oder Nein zu antworten."
"Dann 'Nein'."
"Ich frage dich weiter. Hast du zwei Totgeburten der Maria dem Teufel geweiht, sie gekocht und gegessen?"
"Fahrt zur Hölle", erwiderte Agatha aggressiv und spuckte auf den Boden.
Der Alte sprang empört auf und schüttelte seine Faust gegen sie.
"Verbrennt die Hexe", rief das Tribunal erbost.
"Sarah", wandte sich der Alte wieder an sie. "Bekennst du dich nun von Angesicht zu Angesicht dieses Teufelsweibes der Hexerei schuldig?"
"Sarah", rief Agatha ihr zu. "Gib keine Antwort. Diese Teufel wollen uns nur vernichten und beschuldigen uns der Taten, die sie selbst begangen haben."
"Bringt die Hexe zum Scheiterhaufen", befahl der Alte den Kapuzenmännern, die sofort Agatha packten und von der Tribüne zerrten.
"Fasst mich nicht an, ihr Teufel", kreischte sie und wandte sich an das Tribunal. "Denkt Ihr nicht an Eure Frauen, Schwestern, Töchter und Eure Mütter? Wer hat Euch das Leben geschenkt? Frauen! Wenn
sie schlecht und verdorben wären, währet Ihr es doch auch. Ihr kommt aus unserem Leib, seid aus unserem Blut."
Agatha wurde von der Tribüne gezerrt, zum bereitgestellten Scheiterhaufen gebracht und mit den Händen auf den Rücken dort festgefunden.
Sarah sah mit Schaudern diesem Schauspiel zu.
"Hexe Sarah, bekennst du dich nun schuldig und bereust?", fragte der Alte sie nochmals eindringlich.
"Sarah", rief Agatha wieder. "Sage nichts. Diese Teufel werden uns so oder so töten."
Der Alte hob eine Hand und ein Kapuzenmann mit einer Pechfackel trat näher.
"Zündet das Feuer", befahl er.
Der Fackelträger senkte das brennende Holz nieder und entzündete am äußeren Rand des Scheiterhaufen den dünnen Reisig. Sofort züngelten Flammen empor und Rauch breitete sich aus. Sarah weiteten
entsetzt die Augen und schrie: "Agatha! Nein! Nicht Agatha!"
"Dann gestehe, Hexe", wandte sich der Alte wieder an Sarah. Sarah zitterten am ganzen Leib.
"Sage nichts, Sarah", rief Agatha zu ihr hinüber.
Sarah blickte rasend schnell zwischen Agatha und den Alten hin und her und sprach nun laut und fest: "Ich gestehe meine Sünden, wenn Ihr Agatha am Leben lasst!" Der Alte grinste, hob wieder seine
Hand und rief: "Einhalt!"
Sofort rannten Kapuzenmänner mit Holzeimern herbei und ertränkten die Flammen. Sarah atmete erleichtert auf.
Der Alte richtete wieder seine Stimme an Sarah: "Hexe, du bekennst dich schuldig, dir die Hexenkünste der Agatha zu eigen gemacht zu haben?"
"Ja," sprach Sarah fest.
"Schweig Sarah", rief ihr Agatha zu. "Du hast nichts zu bekennen."
Sarah blickte beschwörend in ihre Richtung und der Alte sprach weiter: "Du bekennst dich schuldig, Simon des Nachts besucht zu haben, um ihn zu behexen und ihn der Manneskraft zu berauben?"
"Ja," sagte Sarah fest und blickte Agatha in die Augen.
"Und du bekennst dich schuldig, ein Machwerk des Teufels zu sein und somit eine Hexe?"
"Ja," wiederholte Sarah noch einmal standhaft.
"Verehrtes Tribunal, damit ist erwiesen, dass Sarah eine Hexe ist und den Flammen übergeben wird. Die Sitzung ist beendet. Zündet den Scheiterhaufen."
Zwei Kapuzenmänner mit Fackeln zündeten den Scheiterhaufen an, auf dem Agatha noch immer gefesselt stand.
"Nein!", schrie Sarah und starrte entsetzt den Alten an. "Ihr habt versprochen, Agatha zu verschonen."
"Ich paktiere nicht mit Hexen. Sie ist eine Ketzerin und wurde bereits der Hexerei überführt und verurteilt. Somit übergeben wir sie ihrem Schicksal."
Agatha blickte beschwörend zu Sarah hinüber und begann mit fester Stimme zu zitieren: "Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue... ", und Sarah fiel mit
ein: "... und führet mich zu frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir ...".
Sarahs Augen füllten sich mit Tränen und nur verschwommen sah sie den Scheiterhaufen. Die Flammen erfassten Agathas Rock und züngelten dann an ihrem Körper hoch, doch Agatha sprach den Psalm weiter,
bis sie plötzlich abrupt verstummte. Ihr Haut färbte sich langsam schwarz und ein süßlicher Geruch nach verbranntem Fleisch zog über den Platz. Sarah brach zusammen und bekam nur noch am Rande mit,
wie einer der Kapuzenmänner mit einem Stock in dem verkohlen Leichnam von Agatha stocherte und erklärte: "Sie ist tot!"
Dann verlor sie das Bewusstsein.
***
Sie erwachte erst wieder in ihrer Zelle. Sie wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war, wie lange sie hier schon lag. Sie hörte, wie ihre Zellentür aufgerissen und sie von Kapuzenmännern herausgezerrt wurde. Im Hof waren viele Menschen versammelt, viele die sie aus dem Dorf kannte. Alle waren aneinander gefesselt, viele von ihnen konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten, irre Blicke voller Angst gingen hin und her.
Sie wurden alle in einer Reihe aufgebaut, umgeben von Kapuzenmännern, die diese Menschen anschließend auf die vom Regen aufgeweichte Dorfstraße vorwärts stießen. Eine schweigende Prozession, die
sich durch den Ort bis hin zum Marktplatz bewegte, auf dem ein großer Scheiterhaufen aufgebaut war. Sarah war wie betäubt. Sie wurde, wie all die anderen, an den aufgestellten Holzpfählen
festgebunden. Dann entzündeten eine Reihe von Kapuzenmännern die Reisighölzer mit Pechfackeln. Die ersten Flammen loderten hoch und Sarah wurde endlich wach. Sie hob ihren Kopf, schaute sich um und -
erkannte Simon, der fast neben ihr stand. Sarah blickte ihn an: "Simon!", rief sie. Simon blickte zu ihr hinüber, lächelte sie ermutigend an und die auf dem Scheiterhaufen Stehenden begannen
einvernehmlich zu singen. Die ersten Flammen erfassten ihren Rock, ihre langen Haare fingen Feuer und sie blickte noch einmal zu Simon hinüber. Das Singen verklang allmählich und endete in
erbärmliche Schreie.
Simon und Sarah sahen sich noch ein letztes Mal an, bis die Flammen sie verbrannten.
+++
Der Malleus Maleficarum (Hexenhammer) wurde 1487/88 von Heinrich Institorius und Jakob Sprenger herausgegeben. Diese Schrift personifizierte die Frau als das "Böse", Werkzeug des Teufels in
schöner Gestalt, die den Manne dazu brachte, entweder seine Potenz zu verlieren oder ihn dazu zu verleitete, seinem Eheweibe untreu zu werden.
Galt es vorher als Häresie an Hexerei zu glauben, so schlug dies nun schlagartig ins Gegenteil um: "Nicht" an Hexerei zu glauben war Ketzerei.
Als sich das 17. Jahrhundert dem Ende zuneigte, hatte diese Hysterie den Atlantik überquert und sich in den Kolonien der Puritaner in Neuengland breit gemacht. Dort wurden weitere Hexenprozesse geführt.
Quelle: "Als die Kirche Gott verriet - Die Schreckensherrschaft der Inquisition von ihren Ursprüngen bis in die Gegenwart"
© Monique Lhoir